9. März 2020, 504.Montagsdemo: Beeindruckende Rede zu Stuttgart21: „Staatsräson oder Staatsverbrechen?“

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– die gesamte Rede als pdf zum herunterladen, findet sich hier

Stuttgart21 – Staatsräson oder Staatsverbrechen?
Was das Einstehen für den Rechtsstaat von uns verlangt 

504.Montagsdemo am 9. März 2020, Stuttgart
Dr. Eisenhart von Loeper, Aktionsbündnis gegen S21, Sprecher und Rechtsanwalt – vorgetragen von Dieter Reicherter


Liebe Freundinnen und Freunde,

es freut mich, mal wieder von dieser Bühne aus im Gespräch mit Euch zu sein.

Die Welt erlebt gerade mit dem Corona-Virus und anderen Irritationen, wie sehr wir und auch die Wirtschaft angreifbar sind. Wachsame, innere Stabilität muss hier helfen. Unsere Bürgerbewegung gegen Stuttgart21 bietet da ein Beispiel, wie wichtig persönliches Engagement und gezielter Widerstand gegen weitreichende politische Fehlentscheidungen sind. Und diese Initiative gewinnt besonderes Format durch die Alternative für den Umstieg von S 21[1]. Herzlichen Glückwunsch!

 

Nach über neun Jahren des engagierten Widerstandes gegen Stuttgart 21 bin ich allerdings schmerzlich erschüttert über das schockierende Versagen und die Uneinsichtigkeit unserer Staatsorgane. Bei Kanzlerin Angela Merkel hieß es, es gehe mit Stuttgart 21 um den „Standort Deutschland“. Wolfgang Schäuble, damals Bundesfinanzminister, erklärte im Februar 2013, als das Projekt die wirtschaftliche Kostenobergrenze mit zwei Milliarden Euro überschritten hatte, „Stuttgart 21 wird gebaut, weil es um das gesamtstaatliche Interesse geht“[2]. In Wahrheit fürchtete man schädliche Folgen eines Projektausstiegs für die Wahl: Merkel, Schäuble, Pofalla und Co nötigten damit den Bahn-Aufsichtsrat unzulässig zum Weiterbau von S21. Unter dem Deckmantel der Staatsräson wurden schon immer die Vernunftargumente und Rechtsvorschriften außer Kraft gesetzt. Um dies in Deutschland auszuschließen, haben die Verfasser des Grundgesetzes bestimmt, dass Menschenrechte unverletzlich und die Staatsorgane ausnahmslos an Gesetz und Recht gebunden sind. Keine noch so große Parlamentsmehrheit darf nach dieser „Ewigkeitsklausel“ des Grundgesetzes (Art. 79 Abs. 3) etwas daran ändern. Dafür stehen auch wir ein und kämpfen für eine solidarische Gesellschaft, für die Bürgerbahn gegen den Wahn schädlicher Großprojekte.

 

  1. Wie die „Staatsräson Stuttgart 21“ rechtswidrig durchschlägt, das will ich zunächst an zwei Beispielen sichtbar machen:

 

  1. Wir hatten die Bahn-Verantwortlichen seit 2013 wiederholt angezeigt wegen Untreue durch den gesetzwidrigen Weiterbau von Stuttgart 21. Doch Berliner Staatsanwälte unter Aufsicht des erst schwarzen, dann grünen Justizsenators (Heilmann, dann Behrendt) haben trotz eindeutiger Beweislage nicht gegen die Bahnvertreter ermittelt, um Gefolgsleute der Politik zu schützen [3]. Angesichts des nachgewiesenen Wissens, wie sehr das Projekt als unwirtschaftlich bekannt war und wie sehr man sich dem politischen Druck zum Weiterbau gebeugt hat, hätte die Justizbehörde gegen Spitzenmanager der Deutschen Bahn AG zwingend vorgehen und Anklage erheben müssen. Daraus hätte sich eine Dynamik tätiger Reue und der UMSTIEG als Ausweg eröffnen können.

 

  1. Wie sehr das Grundgesetz bei Stuttgart 21 missachtet wurde, zeigt weiter die verbotene Mischfinanzierung: Wer in Bund und Ländern gesonderte Aufgaben erfüllen muss, hat nach dem Grundgesetz die Ausgaben dafür zu bestreiten, worauf wir uns mit dem zweiten Bürgerbegehren gestützt und geklagt hatten. Das Bundesverwaltungsgericht – 10. Senat – erlaubte es aber, sichtlich politisch motiviert, der Deutschen Bahn als Staatskonzern, ihre öffentliche Aufgabe und das Grundgesetz zu verleugnen. Das war ein folgenschweres Fehlurteil[4]. Es gilt bis heute, obwohl das Bundesverfassungsgericht später in anderer Sache klargestellt hat, dass die Bahn auch in privatrechtlicher Organisationsform an das Grundgesetz gebunden ist[5].

 

  1. Zum heutigen Entscheidungsbedarf um Stuttgart 21 will ich dem Ministerpräsidenten zurufen: Nein, Herr Kretschmann, der Konflikt um Stuttgart 21 ist keineswegs „befriedet“[6], und „ isch die Katz de Bohm nuf “, dann springt sie auch wieder herunter. Sicher ist: Stuttgart 21 ist als Schienen-Großprojekt ganz und gar gescheitert. Die Regierenden reiten auf einem „toten Gaul“ im stümperhaften Milliardengrab des Schienenabbaus. Wir fordern von der Politik im Namen der Vernunft ein sofortiges Umsteuern. Tun Sie es für den Klimaschutz und enkelverträglich für die Nachwelt. Frankreich und England geben ein Beispiel:

So hat der französische Präsident Macron vor einem Jahr klugerweise und auf Druck einer großartigen Bürgerbewegung den Flughafen in Notre-Dame-des-Landes in der Bretagne gestoppt. Und vor kurzem hat ein hohes Gericht den Ausbau des Londoner Flughafens wegen Verletzung der Pariser Klimaziele gestoppt.

Genau solche und weitere Gründe verpflichten die Verantwortlichen von Stuttgart 21 zu einem Umstieg, denn: Die Deutsche Bahn AG ist nach dem Scheitern der „Sprechklausel“ des Finanzierungsvertrags nicht verpflichtet und aus weiteren Gründen auch nicht berechtigt, über 10 Milliarden Euro Steuergelder für ein seit Jahrzehnten als extrem unwirtschaftlich erkanntes Projekt einzusetzen[7]

Ihr Projektbefürworter habt die Bahn 1994 privatisiert, um sie wirtschaftlich fit zu machen, doch das ist gescheitert durch Verdoppelung der wirtschaftlichen Kostenobergrenze. Nie war es rechtens, die Regeln der Bahn bei S21 zu Lasten aller Bahnreisenden preiszugeben:

  • Ihr Regierenden aber wagt es, von rund 60 km Tunnel 17 km im quellfähigen Anhydrit zu bauen, nicht betriebstauglich durch unüblich hohe, nicht beherrschbare Risiken über mehr als 100 Jahre hinaus.
  • Ihr wagt es, mit einem sechsfach gesetzwidrigen Gefälle von über 15 Promille bei Gleisen und Bahnsteigen Leib und Leben der Fahrgäste zu gefährden.
  • Wie könnt Ihr es ferner klimawidrig wagen, durch die achtgleisige Tief-Schief-Haltestelle Stuttgart 21 auf Dauer einen verfassungswidrigen Verkehrsengpass in der Metropolregion zu schaffen und den Verkehr auf die Straße zu verlagern?

 

3) Besonders folgenschwer kommt hinzu, wie sehr der Brandschutz. fehlschlagen wird. Unsere Bürgerbewegung fordert, gestützt auf Sachverständige, auf die Ingenieure 22 und andere kluge Köpfe, eine grundlegende Planungsänderung weil bei einem ICE-Brand im Tunnel Tausende Tote zu befürchten sind. Das fiktive Unfallszenario des fachkundigen Ulrich Ebert untermauert mit dem Hinweis auf den ICE-Brand bei Montabaur, wie rasant Aluminium mit bis zu 2000 Grad Hitze brennt. Und wie Christoph Engelhardt[8] berechnet hat, würden sich die Giftgase um ein Vielfaches schneller ausbreiten, als die Reisenden in der Tiefe des Tunnels fliehen und beim Verlassen der Bahn auf den engen, steilen Fluchtwegen entkommen können. Die Feuerwehr hat im Brandfalle keine gesicherte Zufahrt[9]. Der Gutachter Hans-Joachim Keim nennt das ein Staatsverbrechen[10], für das sich eine Betriebsgenehmigung in der Tat total verbietet. Juristisch geht es dabei um schweres Unrecht der Staatsorgane, die eklatant gegen höchste Werte des Grundgesetzes auf Leib und Leben der Menschen verstoßen würden. Wer dieses Recht missachtet, setzt sogar letztlich die eingangs genannte „Ewigkeitsklausel“ des Grundgesetzes und den Grundkonsens der Gesellschaft außer Kraft. Jetzt bei S21 einfach auf den Weiterbau zu setzen, um Fehlentscheidungen nicht als solche benennen zu müssen, statt Vorsorge und Verantwortung sprechen zu lassen, ist nicht nur jämmerlich, sondern gesetzwidrig, verantwortungslos und ein Affront gegen jeden Steuerzahler. Auf diese Weise wird ein Notstand provoziert, der stärksten Widerstand erfordert.

 

Übrigens darf die Bauausführung aus einem Planfeststellungsbeschluss nur ausgeklammert werden, wenn die Problematik beherrschbar ist[11]. Daran fehlt es hier: Es wird nicht angemessen auf das kumulative Zusammenwirken der verschiedenen Risikofaktoren reagiert. Die erschreckende Risikohäufung lässt den Brandschutz bei S21 vorhersehbar scheitern: Dies verstößt gegen den effektiven Grundrechtsschutz, darf also nicht genehmigt werden.

 

Dennoch einfach weiterzubauen, um verheerende Fakten zu schaffen, erzeugt einen untragbaren S21-Notstand. Dem widersetzen wir uns nachhaltig, damit die Umkehr für die Zukunft gelingt.

 

Oben Bleiben!

 

[1] Siehe www.umstieg-21.de

[2] Wolfgang Schäuble sprach, wie zuvor schon die Kanzlerin (Stuttgarter Zeitung vom 18.02.2013), ein Machtwort „Stuttgart 21 wird gebaut“ (StZ vom 23.02.2013). Damit wurde auf die Entscheidung des Bahn-Aufsichtsrats von Anfang März 2013 ein gesetzwidriger weisungsähnlicher Druck ausgeübt. Siehe auch DIE ZEIT vom 28.02.2013 „Bahnhof der Eitelkeiten“und Wirtschaftswoche vom 18.03.2013 „Anruf beim Minister“.

[3] Näheres https:// strafvereitelung.de

[4] BVerwG 10 C7.15, VGH 1 S 1949/13, Urteil vom 14. Juni 2016

[5] BVerfG 2 BvE 2/11, Urteil vom 07.Nov. 2017, Randnr. 263, wo ausgeführt wird, „auch die unternehmerische Tätigkeit der Deutschen Bahn liegt im Verantwortungsbereich der Bundesregierung“, die Privatisierung sei eine „Organisationsprivatisierung“, welche bei voller Eigentümerstellung des Bundes die staatlichen Aufgaben des Konzerns nicht entfallen lasse. Die gegenteilige Annahme des BVerwG, die DB AG erfülle keine „öffentliche Aufgabe“, da sie privatisiert sei, das Verbot der Mischfinanzierung also unbeachtlich, erweist sich damit als unhaltbar.

[6] So aber Ministerpräsident Winfried Kretschmann anlässlich der 500. MontagsDemo vom 3. Februar 2020

[7] Näher dazu Prof. Dr. Urs Kramer, Universität Passau, Rechtsgutachten vom 21.03.2019 und Dr. Eisenhart v. Loeper. MontagsDemo vom 25.03.2019

[8] Siehe http://wikireal.info/wiki/Stuttgart_21/Brandschutz/Tunnelvergleich sowie in diesem Dokument

[9] Ulrich Ebert verweist in einem Votum an das Regierungspräsidium Stuttgart vom 15.01.2020 auf ein Dokument von Feuerwehrchef Dr. Frank Knödler, Branddirektion Stuttgart, vom 30.08.2019, im Brandfalle müsse erst die Parallelröhre zur betroffenen Röhre freigefahren werden und es müssten weitere Züge aus der betroffenen Röhre ausfahren. Erst anschließend „wird die Oberleitung abgeschaltet und bahngeerdet. Bevor die parallele Röhre nicht freigefahren ist, kann auch kein Einsatz der Feuerwehr im Tunnel stattfinden, da ein Vorbeifahren der Feuerwehrfahrzeuge an einem Zug im Tunnel nicht möglich ist.“

[10] So bereits im Interview mit Arno Luik vom 10.06.2018 im „Stern“sowie im Bestseller von Arno Luik „Schaden in der Oberleitung – Das geplante Desaster der Deutschen Bahn AG“, Westendverlag, 2019

[11] BVerwG, Urteil vom 05.03.1997, 11 A 5/96, Rn 22 und BVerwG, Urteil vom 08.06.12995, 4 C 4/94, Rn 34, juris

Die Tatsache, dass das Eisenbahn-Bundesamt als Planfeststellungsbehörde im konkreten Fall die Bauausführung mit der brandschutzrechtlichen Prüfung aus dem Planfeststellungsverfahren ausgelagert hat, entbindet weder rechtlich noch erst recht politisch von der Prüfung anhand der DIN-Normen und EBA-Richtlinien, wie die oben von dem Gutachter Dr. Engelhardt genannte kumulative Zusammenwirkung einzelner genehmigter Faktoren einzuschätzen ist: Wird für die fehlende Betriebsgenehmigung die gesetzliche Risikovorsorge gegen das dramatische Scheitern der rechtzeitigen Entfluchtung der Bahnreisenden im Brandfalle pflichtgemäß ernst genommen, muss das EBA die Genehmigung in jedem Falle versagen.

Das Beispiel der weltweiten Corina-Virus-Krise zeigt, dass die Risikovorsorge gegen Lebensgefahren höchsten Rang haben muss. Dieser nach der Wertordnung des Grundgesetzes unerlässliche Maßstab muss auch im Falle des Projekts Stuttgart 21 einen Umstieg gebieten, der den sonst gültigen Anforderungen genügt.